Begegnungen mit Gerhard Lickfett (von Peter Schenzle)
1983 wurde ich in der ‚Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt‘ (HSVA) zu einem Besucher gerufen, der mich sprechen wollte. Es war ein drahtiger, fast asketisch wirkender Mann etwa meines Alters, der sich vorstellte: “Guten Tag, ich bin Seemann“.
Seit 1978 war ich dort eigentlich mit allgemeinen schiffbaulichen Versuchen im Schlepptank beschäftigt und versuchte nebenbei die Ideen und Vorarbeiten zur Entwicklung neuer Fracht-Segelschiffe aus dem ‚Institut für Schiffbau‘ weiterzutragen und zu entwickeln.
Kapitän Gerhard Lickfett hatte im Küstenklatsch (‚von seinen Spionen‘) gehört, dass ich seit 1980 an einem deutsch-indonesischen Projekt arbeitete, zur Entwicklung neuer Fracht-Segelschiffe für den indonesischen Küsten- und Inselverkehr. Für mich und für das Projekt, das wir INDOSAIL nannten, war diese Begegnung mit dem ‚Seemann‘ ein Glücksfall, denn ich spürte, dass man diese neue Entwicklung, nach 100 Jahren ‚Sendepause‘, nicht einfach von der Seite der neuen technischen Möglichkeiten her ‚am Reißbrett‘ oder am Computer anpacken konnte, ohne die Erfahrung und die Anforderungen des Nautikers einzubeziehen, der damit unter realen Bedingungen ‚zur See fahren‘ sollte.
Diese Kompetenz, einen Großsegler bei gutem wie bei schlechtem Wetter sicher und effektiv zu führen, drohte allmählich verloren zu gehen seit solche Schiffe nicht mehr im kommerziellen Einsatz waren; und die Nautiker der wenigen Segel-Schulschiffe der Marinen waren nur bedingt verfügbar. Ein ähnliches Problem betraf die technische Entwicklung. Seit dem Ende der kommerziellen Segelschifffahrt hatte man zusammen mit der beginnenden Luftfahrttechnik gelernt, wie Segeln eigentlich funktioniert und wie es weiter zu entwickeln war, konnte dieses Potential aber nur noch für Sport und Freizeit nutzen.
Gerhard Lickfett erzählte mir, dass er in den 1950er Jahren als junger Mann noch auf dem letzten frachtfahrenden Großsegler PASSAT zur See gefahren war, und während er nach seiner nautischen Ausbildung bei der HAPAG Motorschiffe führte, hatte er immer jede Möglichkeit gesucht, seine Großsegler-Erfahrung auf kleineren Schul- und Traditionsseglern zu nutzen und zu erweitern. So erfuhr ich von ihm zuerst vom Projekt STAR CLIPPERS des schwedischen Reeders Michael Krafft, zwei neue Kreuzfahrt-Segler zu bauen, und Käpten Gerhard war natürlich von Anfang an dabei. Und so traf ich ihn 1992 wieder als Kapitän der STAR CLIPPER in Hamburg vor der Ausreise zur Jungfernfahrt nach Lissabon. Er war bei diesem Anlass in voller Uniform und von offiziellen und prominenten Gästen umschwärmt, schaute aber doch kurz bei uns in der Piano-Bar vorbei, wo ich meinen Freund Jobst Broelmann verabschiedete, und erkundigte sich nach Neuigkeiten auf meiner Seite. Aber natürlich waren er und sein Schiff die größte Neuigkeit, die ich an Land noch bis Altona verfolgte, wo er zum ‚Sail away‘ die ersten Stagsegel setzen liess.
Von da an tauschten wir uns häufig aus, meistens per Telefon, später per e-mail und seltener bei privaten oder öffentlichen Treffen. Gerhard war immer informiert, wenn es irgendwo neue ‚Windschiffs‘-Projekte gab. Wir ergänzten uns dann über technische und betriebliche Aspekte und landeten meistens bei der Sicherheit für Menschen, Meere und Atmosphäre. Wir haben uns von unseren unterschiedlichen Seiten getroffen in der Verantwortung von uns Älteren, weiterzugeben, dass es keine rein technische oder wirtschaftliche Zukunft gibt, dass die Natur kein Objekt der Wirtschaft oder der Technik ist, sondern die Basis des Lebens auf diesem einzigartigen Planeten. Und Gerhard war mir ein Vorbild in seiner Hoffnung, dass wir dieses bedrohte Gleichgewicht stabilisieren können, wenn wir unsere Technik und Wirtschaft so weiter entwickeln, dass sie mit den natürlichen Kreisläufen und nicht dagegen arbeiten.
Die wenigen Beispiele neuer Windschiffs-Projekte waren häufig Kreuzfahrt-Segler, die durch die Werbewirkung ihres Erscheinungsbildes neue Nischen im Kreuzfahrtgeschäft erschließen sollten. Das war nicht unser hauptsächliches Ziel, aber in dieser Nische könnte man doch auch die Technik neuer Großsegler entwickeln, erproben und werbewirksam präsentieren was heute möglich ist. Als ich ihn frage, wie häufig er auf den dicht geplanten Wochentörns dieser Schiffe das versprochene Segelerlebnis bieten kann, sagt er: „Eigentlich kann immer gesegelt werden, nur nicht wenn der Koch die Töpfe auf dem Herd hat – und auch nicht während der (4) Mahlzeiten, aber sonst immer, – außer wenn die Passagiere in der Koje liegen. Und dann braucht man noch den passenden Wind, denn die Ankunft am nächsten Ziel steht fest.“
Wann kann man da noch segeln in diesem engen Fahrplan?
Er hat das in diesen engen Grenzen immer wieder geschafft: möglichst viel Segelzeit herauszuholen und die Passagiere, die einen ‚Windjammer-Törn‘ gebucht hatten, durch interessante Manöver und spannende Geschichten zu motivieren. Noch Jahre nach seinem Rückzug traf ich auf diesen Schiffen Passagiere, die von seinen Reisen schwärmten und auch einen Kapitän, der von ihm, seinem Lehrer, abendfüllend erzählte.
Trotzdem schätzte Kapt. Gerhard, dass selbst auf diesen Schiffen nur 10% der Gäste im Zweifel ein Segelerlebnis dem Komfort und den Mahlzeiten vorziehen würden. Der Ausweg wäre, durch effektive, flexible und arbeitssparende Technik mehr Zeit zum Segeln zu gewinnen. Dabei war Gerhard immer besonders wichtig, dass durch Fernbedienung und schnelleres Setzen und Bergen der Segel auch ein Gewinn an Sicherheit für Menschen und Schiff zu erwarten war, denn jeder ernste Unfall könnte die ganze Entwicklung moderner Windschiffe abwürgen. Da waren wir uns immer einig.
So verfolgten wir die verwirrende Vielfalt der technischen Vorschläge und Projekte moderner Windunterstützung für Motorschiffe und motorunterstützter Windschiffe und versuchten aus technischer und nautischer Sicht ihre Eignung für unterschiedliche Schiffstypen, Routen und Einsatzprofile zu bewerten. Uns verband die Vision, in der Seefahrt nach ~100 Jahren Dampf, Diesel und Abgas, den Wind mit heutiger Technik wieder zu nutzen als ersten Schritt in eine nachhaltige Zukunft unseres bedrohten Planeten.
Und ganz selten fand er zwischen seinen vielen Interessen und sportlichen Aktivitäten ein Zeitfenster für einen Törn auf der Alster mit meinem alten ‚Piraten‘, den er als Jolle nicht so ganz ernst nehmen mochte.