Er brachte immer etwas mit: Süßigkeiten, Geschenke, Geschichten…
Unsere Tangostunde, zu der er immer wenige Minuten vor der ausgemachten Uhrzeit kam, begann meist mit dem Ritual: „Ich bin zu spät, das geht doch nicht! Kannst du mir noch mal verzeihen?….“. Dann wurde die Tupperdose mit den Süßigkeiten für die Pause ausgepackt („Du musst doch was essen, wenn du solange unterwegs bist!“) zusammen mit seinen Aufzeichnungen, die er auf dem Weg im Bus nochmal studiert hatte.
„Ich verstehe gar nicht mehr, was wir letztes Mal aufgeschrieben haben…“. Danach reaktivierten wir zusammen anhand seiner sorgfältigen Notizen die im Körper verlässlich gespeicherten Erinnerungen und tauchten weiter in die Tiefen des argentinischen Tangos ein.
Als er in meine Tangokurse kam, wusste ich bereits, dass er früher Kapitän war und nun als Stabhochspringer zu Seniorenweltmeisterschaften in der ganzen Welt fuhr. Von Zweiterem erzählte er gern und es machte ihm Spaß aufzufallen und bewundert zu werden. Er wirkte dabei jedoch nie überheblich, sondern sehr bescheiden und man konnte sich wunderbar mit ihm zusammen über seine Erlebnisse und Erfolge freuen.
Im Unterricht war er immer eifriger, wissbegieriger Schüler und wie in alle seine anderen Projekte stürzte er sich auch hier leidenschaftlich mit absoluter Hingabe ins Tangolernen. Vorbehaltlos und vertrauensvoll lies er sich in diese ihm noch unbekannte Welt führen.
Eigene Grenzen konnte er schlecht akzeptieren und mutete seinem Körper beim sportlichen Training einige Blessuren zu. Aber auch wenn die Füße schmerzten, kam er zum Tangotanzen und hinkte lieber, als eine Stunde zu versäumen.
Schon gleich zu Anfang sah ich sein großes Engagement und sorgte dafür, dass er immer etwas fortgeschrittenere Partnerinnen hatte.
Durch seine sportliche Aktivität war er trotz seines Alters („ich gehe doch schon auf die Achtzig zu…“) erstaunlich flexibel und wendig in seinen Bewegungen. Unermüdlich übte er das geschmeidige Gehen, auch wenn es manchmal etwas länger brauchte, bis die Muskulatur aufgewärmt war.
Besonders aber liebte er die schwungvollen Achsdrehungen und konnte sich entzücken wie ein Kind, wenn eine komplizierte Drehung gelungen war, der 10. Versuch endlich Erfolg brachte.
Mit einer guten Tänzerin konnte er sich sehr kreativ in seinem Tanz ausdrücken.
Gerhard war ungewöhnlich kontaktfreudig und nahbar.
Smalltalk habe ich mit ihm zusammen nie erlebt, er öffnete sein großes Herz recht schnell und vertrauensvoll und verwickelte auch Fremde sofort in private Gespräche. Zum Beispiel im Bus auf dem Weg zur Tangostunde, anschließend konnte er lange Geschichten darüber erzählen.

Argentinischer Tango ist sehr anspruchsvoll, nicht nur durch die komplexen Bewegungsmöglichkeiten: man kommt sich dabei sehr nahe, sowohl beim Lernen als auch beim Tanzen selbst. Durch die intensiven Begegnungen entstehen neben all den schönen Gefühlen auch schnell Überforderungsgefühle, Berührungsängste, Verletzlichkeiten und Erwartungen, die auch schon mal in Zumutung mutieren können.
Ich habe nie erlebt, dass Gerhard in solchen Situationen überfordert oder brüskierend reagiert hätte. Er wusste um die Verletzlichkeit der Seele und fand immer einen sachten Weg aus unangenehmen Situationen. Andere in ihren Erwartungen zu enttäuschen fiel ihm sehr schwer, so konnte es durchaus mal vorkommen, dass er wie ein freundlicher, freiheitsliebender Delfin dann eben auf Tauchstation ging.
Sein unkonventioneller, freier Geist und seine Lebendigkeit haben mich sehr beeindruckt und ich war überzeugt, dass er noch mit neunzig seine Tangofortschritte genießen würde. Der schockierend abrupte Abschied nach seinem Unfall hat mich sehr erschüttert und ein großes Loch in mein Leben gerisssen.
Lieber Gerhard,
aber es tröstet mich, dass du bis zum Schluss deine Träume gelebt und das verwirklicht hast, was wir Tangotänzer immer üben: der Melodie des Lebens zu lauschen und sich jedem Moment zu hundert Prozent hinzugeben.
Danke so sehr für die gemeinsame Zeit!